Miou

Mitte Dezember 2008 fahre ich in das Nachbardorf zu meinem Hausarzt.
Es ist nicht viel los, ich bin schon der letzte Patient.
Mein Arzt ist also in Erzähllaune. Er hat wie immer einige spannende Geschichten auf Lager.
Am Ende fragt er nach meiner tierischen "Großfamilie".
Bei dem Thema berichtet er von seinen Hundehütten-Bauaktionen. Alte Kühlschränke werden zu isolierten Hundehäuschen. Klingt erstmal ganz gut. Er möchte, dass ich mir das ganze Spektakel sofort einmal ansehe. Eigentlich muss ich noch in die Apotheke, mag ihm aber seine Begeisterung nicht nehmen.
Also ab ins Auto und in seinen "Garten" am Dorfrand gefahren....
Auf dem Gelände tummeln sich frei Zwergziegen, Kaninchen und allerlei Federtierchen.
Dann kommen wir zu den Hundezwingern. Jeder Hund, diverse kurzhaarige Bracken, eine engl.Setterhündin und ein kleiner Terrier sind einzeln untergebracht. In jedem Zwinger eine kleine Überdachung und darin ein Ex-Kühlschrank mit einem mit Laub gefüllten Plastiksack.
Die Hunde sind alle rund und zutraulich.
Wir gehen zurück und bleiben vor Miou stehen.
Ein sehr verdreckter unebener Boden, der Zwinger von den anderen getrennt.
Sicht-und Nasenkontakt mit den Hundekollegen ist von hier nicht möglich.
Miou torkelt wie betrunken ans Tor.
Sie ist dreckig, verfilzt, die Rippen und Wirbel sichtbar.
Ihr Gang erinnert mich an unsere behinderte Hündin mit dem inneren Wasserkopf.
Ich denke:"...nicht noch eine Gretel..."
Mious Augen sind halb geschlossen und tränen. Sie hat Angst, will aber Kontakt.
Ich frage, warum sie so dünn ist.
Sie sei als junger Hund schon immer schon von den anderen gemobbt worden und habe deshalb nicht gefressen. Darum lebt sie jetzt separat. Frisst aber trotzdem nicht.
Der konsultierte Tierarzt habe keinen Grund gefunden. Doktor P. zuckt mit den Schultern.
Miou ist hier vor 2 Jahren im Februar oder März geboren und ist die Tochter der Setterhündin in den hinteren Zwingern.
P. sagt, er will Miou nicht behalten, sie ist nicht jagdtauglich. Es gäbe wohl Interessenten, aber die hätten sich schon lange nicht mehr gemeldet. Ob ich sie nicht haben möchte?
Ich sage von wollen kann keine Rede sein, werde sie aber sofort mitnehmen.
Auf jedem Hof kann man hier ähnliche oder schlechtere Hundehaltung sehen.
Am billigsten ist immer noch ein Stück Kette, ein Ölfass und alle paar Tage ein Stück altes Weissbrot.....aber wenn man direkt davor steht?!
Wir nehmen Miou also an die Leine und setzen sie widerstandslos in mein Auto.
Zuhause bringe ich das Häufchen Elend in das isolierte Welpenhaus. Hole eine Dose bestes Hundefleisch , gute Kroketten. Ich nehme warme Decken mit und schalte die Rotlichtlampe an.
Miou frisst wie ein kleiner Wolf. Aha...
Ich habe Sorge, dass das zu viel sein könnte mit einem Mal.
Danach streckt sich der mickrige Körper unter der Rotlichtlampe und der schmale Kopf kriecht immer dichter auf meine Schulter. Ich sitze so eine ganze Weile bei ihr und sie schaut mich mit ihren glasigen Augen an, ihr Röntgenblick prüft mich.
Sie sucht Nähe, denke ich, das ist so elementar wichtig.
Es gibt so viele verschüchterte Jagdhunde, oft wollen diese überhaupt keinen Kontakt mehr.
Draussen ist es kalt und ich lasse die Wärmelampe lange brennen.
Nach 2 Tagen kommt Ralf zum Weihnachtsurlaub. Wir holen Miou ins Haus. Mittlerweile hat sie die anderen Hunde nach und nach kennengelernt. Sie wird sofort akzeptiert.
Den Einzug ins Haus findet sie grossartig, der glatte Fliesenboden bereitet Anfangsschwierigkeiten. Mious Gang ist sehr unsicher, sie läuft diagonal verschoben, hält den Kopf schief. Man hat den Eindruck, sie hätte, wie ein kleiner Welpe, Hinter-und Vorderteil noch nicht unter Kontrolle. Doch fühlt sie sich so sicher und wohl im Haus, dass sie gar nicht mehr hinaus möchte. Jedesmal muss ich sie lange bitten, halb hinaus tragen, halb über die Schwelle nach draussen schieben.
Es wird schnell klar, dass Miou beim Blick nach draussen der Zaun vor der Nase fehlt. Und ohne Zaun ist Jagd. Und Jagd ist Angst.
Die erste Nacht schläft Miou mit der autistischen Gretel in einem Körbchen. Pott auf Deckel, denken wir.
Bis heute sind gut 2 Monate vergangen und der Schritt nach draussen bleibt noch immer eine Überwindung, der hinein überlebenswichtig.
Im Hunderudel ist Miou sehr sozialfähig, passt sich den Situationen gut an. Sie spielt mit Gretel wie kein anderer Hund zuvor und mit der ranghohen Maremmanin Ida.
Fressen ist immer ein Tageshöhepunkt. Wenn der Gemüsemixer tönt, wird Miou sehr munter und hüpft lachend an der Küchentür. Das Fressen selber ist eine eher ernste Sache.
Miou frisst auf drei Beinen. Hat sie nasse Füsse, versucht sie es auf zweien. Es sieht aus wie japanischer Buto-Tanz. Zig-mal muss auch die Schüssel verlassen, umrundet werden. Sie nähert sich aus anderer Richtung. Logischerweise ist sie immer als letzte fertig und ich sitze dabei und passe auf, dass nicht diverse andere Nasen ihre solche in die Schüssel tauchen.
Ralf bleibt Mious erste 3 Wochen hier bei uns. Als er 4 Wochen später wieder da ist, erkennt sie ihn nicht wieder.
Einmal durch ein Tor im Zaun gegangen heisst für Miou noch lange nicht, dass sie es wiederfindet. Sie kann 20mal am Zaun entlang laufen, immer am offenen Tor vorbei. Man hat nicht den Eindruck, dass sie weiss, was sie eigentlich sucht....den Ausgang.
Sie nimmt die Öffnung nicht einmal wahr, wenn andere Hunde diverse Male rein und raus laufen.
Meiner Hand vor der Nase folgend, kommt sie schliesslich kurz vor der Panik durch das offene Tor.
Die gleiche Situation 2 Tage später. Unfassbar.
Miou scheint draussen grundsätzlich zu träumen. Immer hat sie diesen Gesichtsausdruck, als habe sie gerade eine ausserirdische, nicht sehr sympathische, Erscheinung gehabt.
Der Blick in die Ferne verhindert die Konzentration auf das Naheliegende. Oft eckt sie an und stösst sich. Weiss sie nicht sofort wohin und wie, dreht sie sich wie ein Brummkreisel auf der Stelle.
Aber sie reagiert schnell auf ihren Namen und auf Schnalzgeräusche als Bestätigung.
Auf Besuch kann Miou verzichten. Draussen lässt sie sich gar nicht anfassen. In der Wohnung erst Fluchtversuche, dann Brummkreisel. Aber wenn der Besuch erst einmal sitzt, beruhigt sie sich auch und lässt sich manchmal auch gerne streicheln.
Mitte Februar fahre ich nach Arezzo. Oft fahre ich für OPs mit Hunden in Lucas Praxis.
Miou soll kastriert werden. Ich habe auch den Verdacht auf Hüftgelenksprobleme und will Röntgenaufnahman machen lassen.
Nach der Sedierung (Miou ist nach höchstens einer Minute in Tiefschlaf gefallen) fühlt Luca das Gelenk ab. Mit bedenklichem Gesicht untersucht er den Hund weiter. Der Brustkorb ist angeboren verformt wie eine "Hühnerbrust". Ein genetischer Fehler, der häufig kombiniert ist mit gynokologischen Fehlbildungen. Der Unterkiefer steht vor, die Zähne sind in schlechtem Zustand, der Hund ist wohl auch schon 3 oder 4 Jahre alt.
Über die Verhaltensprobleme und Angst haben wir schon ausführlich am Telefon gesprochen. Luca ist absolut überzeugt, dass es Folgen von Elektrohalsband sind.
Auf einmal sieht er hoch und fragt mich, ob ich finde, dass sich eine Kastrations-OP lohnt.
Ich bin schockiert.
Noch bevor die Röntgenaufnahmen entwickelt sind, ist ihm klar, dass uns eine schlimme Diagnose erwartet.
Er erklärt mir, dass die italienischen Setter extrem häufig von schweren Displasien betroffen sind, weil die Rasse total überzüchtet ist.
Als im Tierschutz arbeitender Tierarzt ist ihm natürlich die Begrenztheit der Mittel nur allzu bewusst.
Allerdings kenne ich Miou nicht bloß als einen von 200 Hunden aus einer Tierheimbox. Sie schläft seit 2 Monaten auf unserem Sofa und fühlt sich als intergrierter Bestandteil der Gruppe aller anderen behinderten, geschädigten, kranken....Hundefreunde in unserer Cuccia Grande.
Nach der Kastrations-OP sehen wir die Röntgenbilder an. Links eine nur leichte Displasie, doch rechts die schlechteste aller Möglichkeiten: schon reichlich Arthrosezubildungen. Beim Anblick meine ich, Knirschen zu hören.
Daher knurrt Miou also, sobald man nur leicht das Fell an der rechten Hüfte berührt.
Der junge Hund hat dauerhaft starke Schmerzen.
Da erscheint es fast nicht erwähnenswert, dass bei der gründlichen Ohrenreinigung in Narkose rechts auch noch Perforationen, durch schwere Entzündungen hervorgerufen, gefunden werden.
Die Rückfahrt von Arezzo nach Hause, es ist sowieso schon spät, dauert 3 Stunden. Ein Unfall hält den Verkehr auf. Eine Schlange Autos mäandert durch die Gassen bei Orvieto, um einen Umweg zu finden. Zum Glück schläft Miou. Das ist gut.
Ich fahre, leicht geschockt noch immer, hellwach und bin fest entschlossen, dass Miou nicht eingeschläfert wird.
Nicht nach 3 Jahren schmutzigem Zwinger, Alleinsein, Angst und altem Weissbrot.
Übrigens hiess Miou in ihrem alten Leben Samba. Ich hatte nicht den Eindruck, dass ihr nach Samba tanzen zumute gewesen wäre.
Doch das kann nicht alles gewesen sein.
Wir müssen uns etwas einfallen lassen!
Für eine Operation.
Für ein schönes schmerzfreies Leben.
Für Miou!
