FranciMiraculiXXX

Franci kommt Anfang Juli. Es ist superheiss. Der arme alte Kerl muss 5 Stunden kurviger Strecke hinter sich bringen. Ich mache mir Sorgen deswegen.

Frank, wie er genannt wird, kommt schliesslich mittags an.

Die Tierheimmitarbeiterin hat ein paar Spaziergänge gemacht unterwegs. Das Transportauto des Tierheims hat keine Transportbox. Der Hund ist im Kofferraum auf dem reinem Plastikboden gefahren, keine Decke, kein Polster. Wie mag er in den kurvigen Strassen herumgekullert sein?!

Unser Gelände liegt am Berg. Die paar Meter von der Einfahrt bis zum Haus kann der Hund kaum bewältigen. Er stolpert fürchterlich, droht ständig sich zu überschlagen, weil er auf der abschüssigen Strasse überhaupt nicht bremsen kann. Die Hinterbeine sind sehr steif.

Mir tut‘s nur leid. Ich möchte ihn eigentlich tragen. Opa Franci umrundet immer wieder das Haus. Ich trage ihn ein paar Male hinein, er will aber eigentlich gar nicht angefasst werden.

"Er ist kein Hund, der gern gestreichelt wird. Er möchte keinen Kontakt und schliesst keine Beziehungen."

Ein Setter: das kommt mir komisch vor.

Angekündigt wurde ein wohl alter Hund, der aber trotz seiner 16 Jahre noch viel herumspaziert.

Er sei schwer krank gewesen, habe sich aber wieder gut erholt.

Frank ist klapperdünn und hat unzählige kahle Hautstellen, klebrige Krusten, der Schwanz ist völlig nackt.

Er hat große Schwierigkeiten , überhaupt die Füsse vom Boden abzuheben. Aufstehen und hinlegen ist sehr sehr schmerzhaft.

Ich denke, das arme alte Tier leidet an Leishmaniose im fortgeschrittenen Stadium oder an Krebs oder so etwas.

Die Tierheimmitarbeiterin erinnert sich, der Leishmaniosetest vom Frühjahr sei negativ gewesen. Sie meint, die kahlen Stellen im Gesicht kämen wohl von der Sonne.

Ich bin nachhaltig schockiert vom Zustand des alten Hundes.

 

Frank wurde 4jährig vom Jäger im Tierheim abgegeben. Dort lebte er 12 lange Jahre weiter hinter Gittern.

Er ist fasziniert von Gras.

Der Tierheimmitarbeiterin gefällt Franks neues Zuhause, freut sich, dass er hier bleiben kann und bald fährt sie ihre fünfstündige Strecke zurück.

 

Ich hole Frank, er heisst nun Franci, ins Haus und schliesse die Tür. Alle 4Beiner sind entspannt und zurückhaltend freundlich mit ihm.

Nach 10 Minuten, ich lege meine Hand unter seine Schnauze, wird sein Kopf so schwer, dass ich denke, er könnte vornüber fallen.

Er entspannt sich und kann mit einem Mal Berührung geniessen. Er seufzt und die Atmung wird ein bisschen langsamer.

Schliesslich legt er sich hin, völlig erschöpft. Dabei geht er in die Hocke und fällt das letzte Stück mit einem gepressten Ausatmen, sonst völlig geräuschlos.

Seine Erschöpfung überträgt sich körperlich.

Ich habe nun Gelegenheit, ihn genauer zu betrachten. Ich denke an einen Liedtext von Herman van Veen: ...ich kann keinen weinen sehen....

 

Eigentlich dachte ich, Franci erst einmal Eingewöhnungszeit zu geben und dann die altbekannte Rutsche zum Tierarzt zu machen, Bestandsaufnahme.

Doch ich fahre schon am darauffolgenden Tag. Ich habe Sorge, es könnte vielleicht schon zu spät sein.

Beim TA kann Franci kaum stehen, ich muss ihn stützen, sage, ich möchte noch ein paar schöne Monate für ihn. Der TA sagt: "Monate??"

Der Allgemeinzustand ist ausgesprochen schlecht. Seitlich der Wirbelsäule kann man von oben den halben Daumen der Länge nach in zwei tiefen Gräben verschwinden lassen.

Dünner geht nicht mehr, sagt der Arzt.

Ich frage nach Leishmaniose, er nickt und macht vorher noch einen Test auf Diabetes.

Dazu schwere Hüftdisplasie mit knarzender Arthrose und schwere neurologische Schäden, ein alter Beinbruch. Die Augen sind entzündet, die Ohren auch.

Franci ist fast taub und sieht nur auf einem Auge.

Er ist stark unterzuckert.

Aber das Herz ist stark.

Wir machen das große biochemische Programm und einen Test auf Leishmaniose und Dilophilaria.

Wie erwartet und befürchtet ist die Leishmaniose positiv und hoch aktiv.

Der Tierarzt möchte mit der Chemotherapie beginnen. Ich bin dagegen und behandle nun erst einmal nur mit Allopurinol. Es ist mir klar, dass dieses leichte Medikament die Krankheit nur verlangsamt, nicht direkt den Parasiten bekämpft, doch ich habe das Gefühl, mehr würde den schon so geplagten Körper nur noch zusätzlich schwächen.

Ich setze meine Hoffnung auf die Kombination von leichter Behandlung, guter Ernährung und einem in Zukunft möglichst stressfreien Leben.

 

Es zeigt sich vom ersten Tag an: das Leben wird sich für mich mit Franci deutlich verändern.

Der Hund ist ab sofort extrem abhängig, er will kaum ohne mich im Raum sein. Im Garten kann er sich nicht allein bewegen, weil er bei kleinen Unebenheiten umzufallen droht. Durch die Arthrosen und vor allem durch die neurologischen Schäden ist der Hund sehr steif, kann seine Bewegungen nicht gut steuern. Wedelt ein Hundekollege freundlich gegen seinen Kopf, bringt das den alten Herrn schon aus dem Gleichgewicht.

Sobald Franci sich aufregt, und das ist sehr sehr häufig, zeigt er sofort seinen alten Hospitalismus: Stereotypes Im-Kreis-Rennen. Manchmal werden die Kreise so klein, dass er zur Mitte fällt.

Ich kann das nicht mit ansehen und versuche , es so häufig wie möglich zu unterbinden.

Das Kreisrennen taucht in unterschiedlichsten Situationen auf: wenn der Hund pinkeln muss und die Tür verschlossen ist, bei Hunger, Angst, oder dem Gefühl von Alleinsein.

Die Tierheimmitarbeiterin sagte, dass sie Franci niemals hatte liegen sehen, immer lief er im Zwinger herum (im Kreis), niemals lag er, um sich auszuruhen!!!

Heute weiss ich, dass der arme Hund immer Hunger hatte. Franci frisst, bedingt durch die Leishmaniose unheimlich viel. Er braucht schon morgens sehr früh, sofort nach dem Aufwachen, eine große Portion.

Insgesamt frisst der Hund, über den Tag verteilt zwei Kilo Futter, das ist unglaublich viel!!

Da Franci Schwierigkeiten hat, das Futter aus der Schüssel aufzunehmen, wird er grundsätzlich aus der Hand gefüttert. Manchmal schnappt er so zu, dass ein fieser abgenuzter Zahn meine Hand trifft. Das tut echt weh. Ich lass ihn das nicht merken.

 

Anfang August nehmen wir notfallmässig eine junge Jagdhündin auf.

Wolke wird aus einem Hühnerstall geholt, kastriert und 3 Tage im Tierheim untergebracht. Dann kommt sie übergangsweise zu uns......und bringt, keiner konnte es ahnen, Zwingerhusten mit. Nach einigen Tagen in unserer Hundegruppe geht ein Reizhusten los, der in Würgereiz gipfelt. Auch Franci steckt sich an.

Für einen immunschwachen Hund ist so eine Infektion natürlich viel schlimmer als für ein junges gesundes Tier.

Franci haut es regelrecht von den Füssen. Binnen kürzester Zeit hat er große Atembeschwerden. Die verordneten Medikamente scheinen die Situation teils noch zu verschlimmern. Das Entwässerungsmittel, um die Lunge von Wassereinlagerungen zu befreien, schwächt den ganzen Hund zusätzlich. Er kann schlecht trinken, muss aber andauernd pinkeln, er ist stark gestresst. Ich setze das Medikament ab. Eine ganze Nacht wachen wir bei Franci und halten seinen Kopf hoch, damit er besser atmen kann. Ich gebe ihm Bronchienerweiterer. Auch fressen kann und will Franci nicht, sein Blutzuckerspiegel sinkt. Er ist zittrig.

Ich ärgere mich, dass eine wartende Frau beim Tierarzt, den Hund im Auto sehend, sagt: der will wohl nicht mehr leben, ist doch auch schon alt.

Was weiss denn die? Ich könnte heulen.

Der Tierarzt gibt Franci kaum noch eine Chance. Zuhause versuchen wir weiter, ihn mit Infusionen zu stabilisieren.

Am Nachmittag liegt der alte Kerl in leichtem Sommerwind an der Eingangstür, will absolut nicht fressen, nicht mal einen wenig trinken. Stundenlang liegt er einfach nur da, die Infusion tropft. Seine trockenen Augen fallen tief in die Höhlen hinein. Ich denke: er geht.....

Ich schreibe schon "Abschieds-SMS" an alle, die Franci kennen und ihn unterstützen.

 

Da, plötzlich wacht er auf, nach Tagen und Stunden der größten Sorge, die Augen rollen von sonst woher wieder ans Licht. Er sieht sehr sehr schwach aus, aber er ist wach und schaut uns an!

Ich hole ihm passiertes Futter mit Honig und Mascarpone in einer dicken Spritze und gebe ihm die Flüssigkeit langsam ein.

Alle Freunde werden wieder unterrichtet.....später werden sie mich immer wieder an diese Tage erinnern: weisst Du noch???

 

Doch Franci erholt sich. Es ist ein richtiges kleines Wunder.

Franci erhält nun den Beinamen FranciMiraculiX.

 

Weisst Du noch? Deine Nachricht, dass Franci heute stirbt???

Das werde ich nicht vergessen!!!

In den kommenden Wochen hat Franci immer wieder furchtbare Probleme mit Durchfall. Er ist entsprechend unglaublich aufgeregt. Ich bin froh, dass meine mit Polypen zugewachsene Nase mir ein extrem eingeschränktes Riechvermögen schenkt. Es ist ausgesprochen ekelig.

Am Anfang denken wir an Infektionen, bei Leishmaniose gibt es häufig solche Probleme, und geben sogar spezielle Antibiotika, doch nach einer ganzen Weile verstehe ich endlich: Stress.     Der alte Franci, so unglaublich abhängig von uns, bekommt Angst, wenn er sich alleine fühlt. Das geht phasenweise so weit, dass ich nur den Raum Richtung Küche verlassen muss.....schon wieder Durchfall. Ich stehe vom Stuhl neben ihm auf, er scheint zu schlafen und sofort: Kopf hoch, Augen riesig aufgerissen....

Mein Leben richtet sich nun notgedrungen noch mehr nach Francis Rythmen. Ich denke, ich darf das senile Bettflucht nennen: Franci steht gegen fünf Uhr auf und beginnt sofort mit dem Kreisrennen. Dabei verliert er Pipi und droht darauf auszurutschen.

Ich muß nun also vor Franci wach sein und die Tür öffnen bevor er wach wird. Ich schaffe das nicht immer.

Anstrengend ist das, wenn ich zu spät ins Bett gegangen bin und vielleicht nachts noch eine Maus versucht hat, sich von aussen durch ein Holzfenster zu nagen.

Abends mit Freundinnen telefonieren ist für die kein Spass, weil ich ziemlich langsam bin, nach 21 Uhr.....

Sofort nach dem Aufstehen braucht Franci sein Frühstück. Eine ziemlich große Portion Fleisch und Gemüse, alles püriert, vor meinem ersten Kaffee.

Nach dem Frühstück wieder ein kleiner Spaziergang vor der Tür. Dann darf ich frühstücken.

Dann ist es oft schon neun Uhr und ich habe noch nichts "Produktives" gemacht. Manchmal habe ich das Gefühl, dass niemand so viel putzt wie ich und nirgends sieht‘s so schrecklich aus. Irgendwann kriege ich einen Link zu den Ludolffs. Ich denke: der Zustand der Küche ähnelt brutal dem meiner.....

Aber so ist das eben, wenn man einen Intensiv-Pflegefall zuhause hat. Dabei bin ich für jeden Tag dankbar, den Franci einfach da ist und sein Futter liebt und seine weichen Plätze und alle Streicheleinheiten. Ich mag nicht drüber nachdenken, wie unverstanden und unwohl er sich all die Jahre im Tierheim gefühlt hat.

Womit ich nicht sagen will, dass man sich dort nicht sicher viel Mühe gegeben hat, aber bei der Zahl derTiere.....

 

Und doch, die Anstrengungen lohnen sich! Franci hat nach einigen Monaten ein recht gutes Elektrophorese-Resultat. Die Leishmaniose ist kaum aktiv. Und tatsächlich nimmt der Opa kräftig zu und sein Fell wächst. Er hat nun ein superweiches Fell, dass im Licht silbrig glänzt. Selbst der vormals seit Jahren komplett kahle Rattenschwanz wächst langsam von der Schwanzwurzel her zu. Am Ende eine winzige Locke! Einige Monate später bilden sich sogar richtige wellige Fransen an den vormals kahlen Hinterbeinen.

Langsam, langsam pendelt sich alles ein. Ich richte mich entsprechend aus und nehme Rücksicht auf Francis Eigenheiten.

Das geht auch nicht wirklich anders, denn Franci MiraculiXXX ist ein echter Dickschädel.

Nach einigen Monaten können wir die extreme Futtermenge (anfangs braucht Franci unglaubliche 3 mal 7OO Gramm Futter) um ein Drittel reduzieren und das jetzt optimale Körpergewicht bleibt konstant.

Franci sieht nun aus wie ein sehr schöner alter Hund, der wohl ein bequemes Leben hatte. Es ist unglaublich. Ein richtiges kleines, nein eigentlich ein großes Wunder :))

Weihnachten sind wir zu zweit, in 2 Wochen Urlaub wollen wir diverse notwendige Arbeiten draussen erledigen. Stall winterfest machen, Heulager weiterbauen und und und....

Doch Franci hat einen ganz anderen Plan. Kurz nach Weihnachten (für uns Tage wie alle anderen auch) ist er morgens , gleich nach dem Aufstehen, ganz torkelig. Er regt sich furchtbar auf, will laufen und kann doch nicht, kann sich kaum auf den Beinen halten.

Wir legen ihn auf einen bequemen Lieblingsplatz und sehen: sobald er seinen Kopf hebt, rasen seine Augen zuckend von links nach rechts, hin und her. Ein Nystagmus.

Die Diagnose und Behandlungsanweisungen hole ich mir telefonisch. Franci bekommt Cortison.

Alles weist auf ein Vestibularsyndrom hin.

Der Begriff ist mir nicht bekannt. Ich lese alles, was ich im Netz finden kann.

Also, sterben wird er nicht daran, aber die Behandlung beziehungsweise Erholungsphase kann locker mal 4-5 Wochen dauern.

Kurz, so lange wollte Franci die Nummer dann nicht hinziehen, wofür wir ihm grenzenlos dankbar sind.

Zwei Wochen lang ernähren wir ihn großteils mit einer dicken Spritze, aus der Hand. Fressen geht nicht wie normal, weil der Kopf eine tollkühne Schieflage hat und immer alles wieder rausfällt. Aber Franci gewöhnt sich gut daran und scheint nach ein paar Tagen die Bequemlichkeiten fast zu geniessen. Er schaut mich mit seinen riesigen dunklen Augen suchend an, wenn ich die Spritze nicht schnell genug nachfüllen kann.

Wegen des Schwindels frisst Franci griechisch-römisch, also liegend. Mit Lätzchen. Und wehe, es kleckert was auf‘s Fell!

Das im Liegen Fressen behalten wir bei, denn länger stehen war immer schon schwierig. Man hätte schon eher drauf kommen können.

Nach dem Vestibularsyndrom , das Cortison ist ausgeschlichen, erhält Franci neben den Tabletten für die Leishmaniose noch ein durchblutungsförderndes Medikament. Wir hoffen, dass es bei dem einen Mal bleibt.

Franci ist nun psychisch noch abhängiger, auch wenn er sich mit der Zeit körperlich wieder erholt. Die Kopf- und Körperschieflage bleibt. Doch lernt der Opi erstaunlich gut, auch damit umzugehen.

Heute ist Franci 9 Monate bei uns. Aus ein paar Wochen sind jetzt tatsächlich 9 Monate geworden.

Und jeder weitere Tag zählt doppelt und dreifach!

Allerdings bin ich noch mehr ans Haus gebunden. Diese Tatsache strengt mich sehr an. Ruhigen Gewissens kann ich nur draussen arbeiten oder mit den Hunden spazieren gehen und spielen, einkaufen fahren, Stall misten.....wenn Franci schläft. Und sein Schlaf ist trotz Taubheit leicht zu unterbrechen. Er hat da so eine spezielle Sinneswahrnehmung, die ihm auch im Schlaf sagt, wenn ich den Raum verlasse.....keine Ahnung, wie er das macht. Aber er ist Großmeister darin.

Franci ist Großmeister. Ein MiraculiXXX.

Immer wieder dem Tod nochmal von der Schippe getorkelt.

Er ist auch Großmeister darin, mir zu sagen, was er will und was nicht, sowieso....und das ohne Stimme und ohne Mimik!

Und er ist Großmeister darin, zu zeigen, dass man eigentlich nur eine gute Basis braucht: einen warmen sicheren Platz zum Schlafen, einen vollen Bauch und sehr viel Zuneigung.

Darüber hinaus ist alles Luxus, und dafür haben wir keine Zeit :))

Und ich übe und übe mich in Geduld, und darin zu verstehen was er damit meint.